Die Familie gilt gemeinhin als die Keimzelle der Gesellschaft. In der Familie wachsen wir auf, wir lernen Regeln und Routinen kennen und entdecken die dahinter liegenden Überzeugungen und Werte. In der Familie erfahren wir uns und die Welt, wir teilen gemeinsame Erlebnisse, wir streiten und raufen uns wieder zusammen.
Etwas Ähnliches lässt sich auch von einem Chor sagen. Auch hier treffen Menschen aufeinander, studieren zusammen Musik ein und finden dabei ihre Stimme, auf die es ankommt, damit das jeweilige Werk zur Aufführung gelangt.
Was einen Chor tatsächlich ausmacht, kommt in den drei Filmen «Sister Act» (1992), «Die Kinder des Monsieur Mathieu» (2004) und «Pitch Perfect» (2012) sehr schön zum Ausdruck: Es sind alles Filme, in denen der jeweilige Chor als ein Projekt der Emanzipation formiert wird. Es gilt, sich von der eigenen Vergangenheit zu trennen, sich vom Schlechten in der Welt zu lösen, sich von der nüchternen und rationalen Welt abzusondern, um sich zusammen mit anderen zu behaupten.
In «Sister Act 1» trennt sich Deloris von ihrer schwierigen Vergangenheit und findet in den Nonnen ihre Schwestern, die sie gegen die Mutter Oberin verteidigt, die Ordnung vor Leidenschaft setzt. «Die Kinder des Monsieur Mathieu» finden im Chor Zusammenhalt gegen den tyrannischen Heimleiter, der für Ihre Gefühlswelt kein Verständnis hat, sondern ihnen nur Zucht und Disziplin auferlegt. In «Pitch Perfect 1» wird ein Frauenchor nicht als vollwertig betrachtet, wobei die jungen Frauen im Zwang des sich-beweisen-müssens feststecken. Irgendwann knallt es gewaltig, alle sprechen sich aus und klären ihre Position. Jeder dieser Chöre ist ein Emanzipationsprojekt, bei dem sich eine Gruppe gegen Regeln und Zwänge stemmt, sich läutert und schliesslich als solidarische Gemeinschaft zusammenfindet.
Sich zusammenfinden, um sich gegen etwas stemmen und sich davon zu emanzipieren – alle diese Bemühungen schaffen erst die Voraussetzungen, um die Musik zu machen, die einem wichtig ist. In allen drei Filmen geht es darum, Räume zu schaffen, in denen niemand ignoriert oder abgelehnt wird, sondern jeder dazugehören darf, als Einzelner gesehen und anerkannt wird. Wenn niemand sich schämt, frei zu singen, dann verweist das Gesungene weniger auf die aufgeführte Musik, sondern vielmehr auf die Singenden. Die Musik selbst verbindet nicht, sie wird gemacht.
Wir wissen nicht, ob Hans Georg Nägeli die Chöre, die seinerzeit gründete und leitete, auch als solche Solidargemeinschaften verstand. Aber es eine schöne Vorstellung, dass ihm das Singen möglicherweise wichtiger war als das Gesungene.